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Folge 5: Die Kinder Odins

Gaspard rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht. Er hatte die gesamte Nacht Akten gewälzt. Das Thema Cousland ließ ihn nicht los und tatsächlich hatte er nach und nach immer mehr Hinweise finden können. Je mehr er nachforschte, umso deutlicher wurde jedoch, dass er einen unangenehmen Besuch vor sich hatte. Alle Indizien führten ihn an ein und denselben Ort. Zu Eisenwald. Gaspard stand vor dem Gildengebäude und zögerte hineinzugehen. Die kühle Morgenluft und die Stille, die zu dieser frühen Stunde herrschte, gefielen ihm sehr gut. Er wusste jedoch, dass das Chaos über ihn hereinbrechen würde, sobald er durch diese Tür gehen würde. Er atmete tief ein und griff nach dem Türknauf. Es half ja alles nichts. Er drehte den Knauf und die Tür schwang auf magische Weise auf.


Wie er es erwartet hatte, wurde er von Gebrüll und klirrendem Geschirr empfangen. Ein Schwertkämpfer und ein Eichhörnchen rannten kämpfenderweise durch den Schankraum. Ein Tisch mitsamt Stühlen flog den beiden hinterher, sodass einige Anwesende gezwungen waren sich zu ducken. Der Barkeeper stand auf dem Tresen und brüllte etwas, das Gaspard nicht ganz verstand. Er kannte den Mann. Rodric war einer der Magier Eisenwalds, die ganz oben auf dem Stapel auf Gaspards Tisch lagen. Der Stapel war für besonders schwere Schadensfälle und Reparationszahlungen reserviert. Über die Hälfte der Anträge hatten mit Eisenwald zu tun. Ein Lachen erfüllte den Raum, als die beiden Streithähne gegen eine Mauer prallten, die vor ein paar Sekunden noch nicht existierte. Ein weiterer Magier mit Namen Deimos, der Gaspard ebenfalls wohlbekannt war, hatte die Mauer mithilfe seiner Magier beschworen. Neben ihm saßen der Gildenmeister Artemov Grigorovich sowie seine Enkelin Anastasia. Ein junger, ihm unbekannter Magier, der neben Anastasia saß, erregte seine Aufmerksamkeit. Bisher hatte er bereits mit jedem Mitglied dieser Gilde das zweifelhafte Vergnügen gehabt, sich um die sinnlose Zerstörung und deren Beseitigung zu kümmern. Diesen jungen Kerl kannte er jedoch nicht. Er folgerte daraus, dass es sich um Aedan Cousland handeln musste. Der Junge sah unerfahren und unsicher aus. Beeinflussbar. Gaspard wandte seinen Blick jedoch ab und konzentrierte sich auf den Mann, mit dem er eigentlich reden wollte.


»ARTEMOV!« Das Lachen und wilde Treiben erstarben schlagartig. Alle Augen richteten sich auf Gaspard, was diesen jedoch keinesfalls aus der Ruhe brachte. Auf magische Weise schoben sich Tische und Stühle mitsamt den darauf Sitzenden zur Seite und bildeten einen Gang, der direkt vom Eingang der Gilde zu Artemovs Tisch führte. Gaspard lief unter den Blicken aller anwesenden Magier auf Artemov zu. Er war kein Magier und jedes der Gildenmitglieder war mächtiger als dieser Mann, wenn es um reine Kraft ging, doch jedem war bewusst, welche Gefahr er sich aussetzte, wenn er diesen Adligen ärgerte. Einzig und allein Artemov lächelte, als der engste Berater des Königs vor ihn trat. »Wir müssen reden!«


»Es ist auch schön, Euch zu sehen, Meister Coulomb. Setzt Euch doch.« Artemov deutete auf einen Stuhl direkt gegenüber. Gaspard blieb jedoch unberührt stehen.


»Ich denke, es ist in Eurem eigenen Interesse, wenn wir unter vier Augen sprechen. Es geht um ein ehemaliges Mitglied eurer Gilde.« Gaspards Blick fiel auf Aedan, bevor er wieder zu Artemov sah. Artemov hatte den Hinweis verstanden und nickte nur mit dem Kopf. Er stand auf und ging, ohne ein Wort zu sagen, in ein anderes Zimmer. Gaspard folgte ihm und als die beiden Männer verschwunden und die Tür geschlossen war, nahm das Treiben in dem Wirtshaus wieder seinen Gang ganz so, als ob nie etwas geschehen wäre.


»Was denkst du, worüber die beiden reden wollen?« Aedan schaute immer noch auf die Tür, hinter der sein Meister mit dem Adligen verschwunden war. Er hatte den Mann erkannt, denn es war derselbe, der am Tag zuvor in der Handelskammer aufgetaucht war.


»Keine Ahnung, aber wenn Sir Coulomb mit Großvater sprechen will, dann ist es für gewöhnlich etwas sehr Wichtiges.« Anastasia klang besorgt.


»Was auch immer es ist, es geht um dich.«


»Um mich?« Aedan sah Deimos verwirrt an.


»Hast du seinen Blick nicht bemerkt? Und wie der Meister reagiert hat?« Deimos zog eine Augenbraue hoch.


»Das stimmt.« Anastasia sah Aedan nun ebenfalls mit interessiertem Blick an.


»Denkt ihr, ich stecke in Schwierigkeiten?« Aedans Magen verkrampfte. Er war endlich ein Mitglied von Eisenwald. War sein Abenteuer schon wieder vorbei?


»Es geht um Aedan Cousland. Oder besser gesagt um seinen Vater Arthur.« Gaspard verschwendete keine Zeit mit Nettigkeiten. Artemov hatte sich auf einen gemütlichen Ohrensessel gesetzt, der direkt neben einem im Kamin brennenden Feuer stand. Auf dem dazugehörigen Tisch stand eine Kanne mit Tee sowie zwei Tassen.


»Wollt ihr Euch nicht vielleicht setzen? Vielleicht einen Tee trinken?«


»Ich will Antworten auf meine Fragen.« Gaspard blieb stehen. Artemov schürzte die Lippen und goss sich genüsslich eine Tasse mit heißem Tee ein.


»Dann bitte ... Fragt.« Artemov setzte sie Tasse an die Lippen. Sein Blick blieb jedoch fest auf Gaspard gerichtet.


»In meinen Akten fehlen Aufzeichnungen zu einem gewissen Arthur Cousland, der vor vielen Jahren ein Mitglied von Eisenwald war.«


»Klingt nach schlampiger Buchführung.« Artemov grinste. In Gaspard begann es zu brodeln. Niemand durfte seine Buchführung schlampig nennen, schon gar kein Magier. Er gönnte Artemov jedoch nicht die Genugtuung zu zeigen, dass ihn die Bemerkung traf.


»Nach weiterer Recherche zeigte sich, dass es nicht nur Arthur betrifft, sondern auch noch einen gewissen Isaac Foster sowie Monica Rosewall. Beide ebenfalls ehemalige Mitglieder von Eisenwald.« Artemovs Grinsen verschwand und ein Ausdruck von Trauer legte sich in seinen Blick. »Ich will wissen, wo diese Leute sind und wieso fast sämtliche Aufzeichnungen zu ihnen fehlen, seitdem sie bei der Eroberung von Priamor geholfen haben.«


»Ihr könnt mir glauben Gaspard...« Artemov stand auf und lief zu einem nahegelegenen Fenster. »Wenn ich es wüsste, dann würde ich nicht hier herumsitzen. Kurz bevor die drei nach Priamor aufbrachen, haben sie mir gesagt, dass sie aus der Gilde austreten, da sie sich einer neuen Gilde anschließen wollten. Der Name lautete: Die Kinder Odins.« Artemov drehte sich wieder zu Gaspard und sah ihn mit durchdringendem Blick an.


»Die Kinder Odins? Ich habe noch nie von so einer Gilde gehört.« Gaspard nahm sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und stützte seinen Arm auf dem anderen ab.


»Ich auch nicht. Mit dem aufkommenden Krieg hatte ich jedoch andere Sorgen, als mir Gedanken über eine unbekannte Gilde zu machen.« Artemov goss erneut Tee in seine Tasse, doch diesmal füllte er auch die zweite Tasse und bot sie Gaspard wortlos an.


»Und dennoch seid ihr vor zwei Jahren nach Priamor aufgebrochen und erst vor kurzem zurückgekehrt. Ich nehme an, nicht ganz grundlos?« Gaspard nahm die Tasse an, doch trank nicht. Er hielt sie nur in der Hand.


»Das stimmt. Ich traf einen anderen Gildemeister, mit dem ich ins Gespräch kam. Wir kamen auf das Thema mit dem Umgang ehemaliger Mitglieder. In diesem Moment kam mir die Erinnerung an Arthur, Isaac und Monica. Ich brach auf, da ich etwas über ihren Verbleib herausfinden wollte, doch alles was ich fand, war Aedan, Arthurs Sohn.« Gaspard stellte die unberührte Tasse auf dem Tisch ab.


»Dann weiß der Junge vielleicht etwas.«


»Nein. Er sucht seinen Vater genauso, wie ich oder Ihr. Das Einzige, das er über ihn weiß ist, dass er Magier war.« Artemov stellte seine leere Tasse neben die immer noch volle, dampfende Tasse Tee von Gaspard.


»Davon würde ich mich gern selbst überzeugen.« Gaspard drehte sich um und wollte den Raum verlassen, doch eine bedrohliche Aura in seinem Rücken ließ ihn stocken.


»Davon würde ich euch abraten, Meister Coulomb. Ihr befindet Euch in meinem Haus und Ihr wisst, dass nach altem Recht selbst der König nicht über der Entscheidung des Gildenmeisters steht.« Gaspard drehte sich um und blickte in das schwarze Gesicht eines Riesen mit roten Augen. Jeder andere wäre vor Artemovs Magie erzittert. Nicht jedoch Gaspard.


»Droht Ihr mir, Grigorovich?« Mit verschränkten Armen stand Gaspard vor dem Meister der ihm verhassten Magiergilde.


»Ich erinnere Euch einzig und allein an mein Recht, Euch aus meinem Haus zu bitten. Wenn Ihr also nun bitte gehen würdet?« Artemovs riesige Pranke deutete auf die Tür.


»Fürs Erste sind wir hier fertig, aber seid Euch sicher Grigorovich ... Das wird noch ein Nachspiel haben.« Gaspard drehte um und verließ das Zimmer. Er ging an Aedan vorbei, ohne ihn oder irgendeinen der anderen Magier eines Blickes zu würdigen.


»Meister? Bin ich in Schwierigkeiten?« Aedans besorgter Blick fiel auf Artemov. Dessen Blick unter den weißen Augenbrauen war auf Gaspards Rücken fixiert, bis dieser die Gilde verlassen hatte. Der Gildenmeister war weitaus kleiner, als jeder Anwesende, doch seine Aura war überwältigend. In dem Moment, da Artemov sich mit einem Lächeln an Aedan wandte, verschwand diese Aura.


»Nicht solange ich der Meister von Eisenwald bin.«



Fortsetzung folgt...

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