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Die folgende Kurzgeschichte entstand als Monatsaufgabe von Instagram. Es ist eine Verschmelzung zweier Aufgaben.
Aufgabe Eins lautete: Schreibe eine Märchenadaption.
Aufgabe Zwei lautete: Blick durchs Schlüsselloch.
Ich habe mir erlaubt beide Aufgaben in einer Geschichte zu verschmelzen.
Die Tür der Brüder Grimm
„Also? Was sagen Sie? Gefällt Ihnen das Haus?“ Der Makler hatte sich wirklich alle Mühe gegeben und Martin war begeistert. Das alte Gebäude gehörte einem älteren Herrn, der vor kurzem ohne bekannte Verwandtschaft verstorben war. Das Fachwerkhaus stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert und man fühlte sich in der Zeit zurück versetzt, sobald man es betrat. Martin war dem rustikalen Charme der Einrichtung bereits schon von Anfang an verfallen und die Bemerkung des Maklers, dass angeblich die Gebrüder Grimm dieses Haus gebaut haben sollen, bestätigte ihn nur in seiner Entscheidung.
„Ich nehme das Haus! Ich hab nur noch eine Frage.“ Martin zeigte auf eine Tür, die sich im Wohnzimmer des Hauses befand. „Was befindet sich hinter dieser Tür? Das ist der einzige Ort, den Sie mir bisher noch nicht gezeigt haben.“
„Zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass ich das nicht weiß. Der Schlüssel zu dieser Tür ist schon seit Jahrzehnten verschollen. Seltsamerweise sind auch sämtliche Versuche die Tür auf andere Weise zu öffnen ohne Erfolg geblieben. Ich schätze, wenn Sie den Schlüssel nicht finden, werden Sie nie erfahren, was dahinter liegt.“ Die Miene des Immobilienmaklers nahm einen besorgten Ausdruck an. „Ich hoffe, das beeinträchtigt Sie nicht in Ihrer Entscheidung?“
„Nein, keine Sorge. Ich nehme das Haus“ Martin war neugierig geworden. Er würde genügend Zeit haben, dieses Rätsel zu lösen, wenn er erst einmal hier wohnen würde.
„Wunderbar! Ich werde umgehend den Kaufvertrag aufsetzen und dann sind Sie der glückliche Besitzer dieses wunderbar historischen Heimes.“ Der besorgte Gesichtsausdruck des Maklers wurde durch ein glückliches Grinsen hinweggefegt. Martin wusste, dass der Makler sich über seine Provision freute, die mit Sicherheit nicht gering ausfallen würde, doch es interessierte ihn nicht weiter. Er wollte wissen, was hinter dieser Tür lag.
Martin wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er hatte jeden Antiquitätenhändler besucht, den er nur finden konnte, um das Haus mit authentischen Möbeln aus der Zeit der Gebrüder Grimm zu füllen. Die Möbel zu finden und zu kaufen war nicht das Problem, doch sie in die Wohnung zu tragen war anstrengend, denn so ein antiker Schrank oder Sofa war schwer. Martin setzte sich auf das Sofa, das er gerade hereingetragen hatte und sein Blick fiel auf die verschlossene Tür. Sie war aus dunklem Holz und reich verziert. Es waren mehrere Szenen eingraviert, die Martin an Situationen aus den Märchen der Gebrüder Grimm erinnerten. Er sah Rotkäppchen, die gerade mit dem bösen Wolf sprach. Er erkannte Hänsel und Gretel, die die Hexe in den Ofen stießen. Er sah Rapunzel, die ihr langes Haar aus einem hohen Turm warf und er erkannte noch viele, viele andere Märchen. Dieses Haus war ganz sicher mit den Gebrüdern Grimm in Verbindung zu bringen. Allein diese Tür bestätigte ihn in diesem Gedanken. Plötzlich packte ihn ein Impuls, dem er nicht widerstehen konnte. Er stand auf, ging zu der Tür und schaute auf das Schloss. Es war offensichtlich, dass ein großer, alter Schlüssel in dieses Schloss passte. Der Vorteil, an dieser Art Schloss war, dass man sehr gut durch sie hindurch auf die andere Seite sehen konnte. Martin kniete sich hin und schaute durch das Schlüsselloch. Er wusste nicht, was er erwartete zu sehen, doch er war nicht darauf vorbereitet, was er zu sehen bekam. Auf der anderen Seite der Tür sah er Bäume, die scheinbar zu einem Wald gehörten. Martin rieb sich die Augen, denn es war unmöglich, dass hinter der Tür ein Wald lag. Das Haus befand sich mitten in der Stadt. Vollkommen verwirrt stand Martin auf und setzte sich wieder auf das Sofa. Seine Augen spielten ihm scheinbar einen Streich. Er schaute erneut zu der Tür und sein Verlangen sie zu öffnen wurde nur noch stärker. Er stand wieder auf und entschied sich dazu den Dachboden zu untersuchen. Er war der Meinung, dass dort noch einige alte Möbel des Vorbesitzers standen. Er stieg die Treppe nach oben und nachdem er auch die zweite Treppe hinaufgegangen war, stand er vor der Tür zum Dachboden. Martin öffnete die Tür und eine Mischung aus Staub, Spinnweben und toten Fliegen kam ihm entgegen. Er betrat den Dachboden und schaute sich um. Er hatte bereits viel Kram hier oben abgeladen, doch ganz hinten sah er das, weswegen er hochgekommen war. Ein ehemals weißes, nun mehr graues Tuch verdeckte einige alte Möbel, die nicht ihm gehörten. Es war ihm ein Rätsel, weshalb diese Sachen noch hier standen, denn der gesamte Besitz des Vorbesitzers war entweder verkauft oder gespendet worden. Es kümmerte ihn jedoch nicht weiter, denn aus irgendeinem Grund wurde er dorthin gezogen. Er nahm das Tuch in die Hände und zog es herunter, wodurch eine ganze Menge Staub aufgewirbelt wurde. Nachdem Martin aufhörte zu Husten, begutachtete er seinen Fund. Es waren einige alte Möbelstücke, die leider jedoch zu kaputt aussahen, um sie zu nutzen. Martins Aufmerksamkeit erregte jedoch ein großer Schrank. Er bestand aus dem selben Holz, wie die Tür und auch er war übersät mit Schnitzereien alter Märchen. Martin öffnete die Türen, er begutachtete den Innenraum und er besah die Rückseite, doch ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Einem letzten Gefühl folgend klopfte er den Boden des Schrankes ab. Er hatte schon nichts mehr erwartet, doch auf einmal hörte er, dass eine Stelle des Schrankbodens hohl zu sein schien. Martin suchte nach einer Öffnung oder einem Fach, doch er fand nichts. Erst, als er sich den Schrank von unten ansah, sah er eine kleine Öffnung. Er bekam ein kribbeln im Bauch und öffnete das geheime Fach. Ein Schlüssel fiel heraus und Martin war sich sicher, dass es der verschollene Schlüssel zur verschlossenen Tür war. Die Neugier trieb ihn zurück zu der Tür im Wohnzimmer.
Martin stand vor der Tür und starrte auf den Schlüssel in seiner Hand. Es war ein alter, schwerer Schlüssel aus Eisen, dessen Ende aussah, als würde es ein G formen. Bevor er das G-förmige Ende in das Schlüsselloch steckte schaute er noch einmal hindurch. Wieder sah er auf der anderen Seite einen Wald. Martin war sich ganz sicher. Die Tür würde ihn an einen wahrhaft märchenhaften Ort bringen. Er steckte den Schlüssel in das Loch und drehte ihn um. Das klicken des Schlosses war nicht das einzige, das durch die Drehung ausgelöst wurde. Die Schnitzereien auf der Tür begannen plötzlich zu leuchten und schienen zum Leben zu erwachen. Es sah fast so aus, als würden sämtliche Figuren plötzlich Martin ansehen. Er bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, doch nahm er den Türknauf in die Hand und ganz langsam drehte Martin ihn um. Die Tür öffnete sich. Martin stand nun in seinem Wohnzimmer vor einer geöffneten Tür, die ihn direkt in einen Märchenwald führte. Er atmete tief durch und trat hindurch.
Auf der anderen Seite der Tür war tatsächlich ein Wald. Martin dachte zuerst, dass es eine Illusion sei, doch er war hier. Er hatte den moosigen Geruch in der Nase und er spürte den leichten Wind auf seiner Haut. Wenn er träumte, dann fühlte sich dieser Traum verdammt real an. Martin drehte sich um und schaute nach der Tür, doch ihm wurde plötzlich kalt. An der Stelle, wo er die Tür erwartete, war nichts. Er war gefangen in dieser Welt.
„Wolfgang! Wolfgang, wo steckst du? Wooooolfgang!“ Ein kleines Mädchen mit einer roten Kapuze kam hinter einem Baum hervor. Martin traute seinen Augen kaum. „Oh, hallo. Hast du zufälligerweise einen großen Wolf gesehen? Er heißt Wolfgang.“
„Entschuldige...Was?“ Martin war überrascht.
„Ein Wolf...Hast du einen gesehen? Ich war bei meiner Großmutter und musste sehen, dass sie leider noch lebt. Eigentlich hätte Wolfgang da auf mich warten sollen.“ Das kleine Mädchen stemmte ihre Hand in die Hüfte. Martin fiel nun auf, dass sie in der anderen einen Korb mit Lebensmitteln trug.
„Ähm...Bist du etwa Rotkäppchen?“ Martin kam dieser Satz total bescheuert vor, doch er musste einfach fragen.
„Ja natürlich bin ich das du Dummerchen. Wir sind hier schließlich in meinem Märchen. Aber wir können nicht weiterspielen, wenn Wolfgang nicht endlich auftaucht und meine Großmutter frisst.“ Rotkäppchen schaute Martin traurig an. Der musste sich kurz kneifen und als er den Schmerz spürte, wurde ihm bewusst, dass dies wirklich kein Traum war. „Naja, ich muss jetzt weitersuchen. Mach's gut und wenn du einen großen, bösen Wolf siehst, dann sag ihm bitte, dass wir nach ihm suchen.“
„Mach ich...“ Rotkäppchen lief im Hopserlauf davon und rief wieder nach ihrem Wolfgang. Martin konnte nicht anders, als ihr mit offenem Mund hinterher zu starren. Ein zischendes Geräusch riss ihn jedoch aus seinen Gedanken heraus.
„Psst! Hier drüben... Ist sie weg?“ Hinter einem Baum kam ein Wolf hervor, der auf den Hinterbeinen lief und mehr aussah, wie ein typischer Werwolf aus irgendeiner Fantasygeschichte, denn als ein gewöhnlicher Wolf. Die brutale, zahnbewehrte Schnauze und der muskulöse Körper hätten Martin Angst eingejagt, wenn nicht dieser panische Blick gewesen wäre.
„Ich denke schon. Bist du Wolfgang?“
„Ja, aber ruf jetzt bitte nicht nach der Göre. Ich versteck mich schon seit Stunden vor ihr.“ Es war offensichtlich, dass Wolfgang vor etwas Angst hatte. Konnte es wirklich sein, dass dieser riesige, schwarze Wolf Angst vor einem kleinen Mädchen hatte?
„Du versteckst dich? Wieso“ Martin verstand nicht.
„Wieso? Ich hab keinen Bock mehr auf den Scheiß! Jeden verdammten Tag werde ich entweder aufgeschlitzt oder ersoffen. Montags bis Mittwochs muss ich die Großmutter von dieser Göre fressen, nur damit sie mir am Ende den Bauch aufschneiden und Steine in den Magen legen kann. Weißt du eigentlich, was Wackersteine für ein Sodbrennen verursachen können?“ Der Wolf stand kurz davor in Tränen auszubrechen. „Donnerstag und Freitag geht's dann weiter bei den drei kleinen Schweinchen. Da soll ich dann ihre Häuser umpusten. Ich hab Asthma! Wie soll ich das denn bitte anstellen? Und am Wochenende geht's dann zu diesen sieben Geißlein. Erst gehen mir diese Nervensägen auf den Geist und am Ende krieg ich schon wieder Steine in den Magen gelegt! Ich will doch einfach mal nur ein einziges Mal Urlaub machen, aber der Märchenfigurgewerkschaft ist das ja scheißegal.“ Wolfgang war wütend, so viel konnte Martin verstehen. Alles andere war zu viel für seinen Verstand. Dennoch hatte er Mitleid mit Wolfgang.
„Hör mal...wenn ich dir irgendwie helfen kann...“ Martin fiel plötzlich auf, dass er den Schlüssel in der Hand hielt, mit dem er zuvor die Tür in seinem Wohnzimmer geöffnet hatte. Auch Wolfgang schien das bemerkt zu haben.
„Ich glaube, du könntest tatsächlich etwas tun. Du könntest mich in ein anderes Märchen mitnehmen.“ In den Augen des Wolfes blitzte so etwas wie Hoffnung auf.
„Ok, aber wie soll ich das anstellen?“
„Wie wärs, wenn du einfach einer der Türen da öffnest?“ Martin drehte sich um und zu seiner Überraschung stand er nun nicht vor einer, sondern vor drei Türen, mitten im Wald standen. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, doch ging er auf eine der Türen zu und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als Wolfgang ihn aufhielt. „WARTE! Du musst zuerst durchs Schlüsselloch schauen, u zu sehen, was auf der anderen Seite ist.“
„Wieso?“ Wolfgang zuckte als Antwort nur mit den Schultern und gab eine kurze Antwort.
„Das ist halt Märchenweltgesetz.“ Martin kam es seltsam vor, doch wenn es ein Gesetz dieser Welt war, dann war es besser, wenn er sich daran hielt. Er schaute also durch eines der Schlüssellöcher. „Und? Was siehst du?“
„Kann ich nicht genau sagen. Ich sehe eine Menge Häuser. Könnte vielleicht eine Stadt sein.“
„Hmm... das könnte so gut wie jedes beliebige Märchen sein. Aber hey, ich war schon lang nicht mehr in einer Stadt. Mach die Tür auf!“ Wolfgang schien begeistert von dem Gedanken, nun endlich den Wald verlassen zu können. Martin kam das alles immer noch extrem seltsam vor, doch er steckte den Schlüssel in das Loch und drehte ihn um. Die beiden anderen Türen verschwanden und die übrige Tür öffnete sich von allein. Martin steckte den Schlüssel wieder in eine seiner Hosentaschen und folgte Wolfgang in das nächste Märchen.
Sie befanden sich mitten in einer Stadt. Genauer gesagt standen sie auf einem Marktplatz. Martin sah eine Menschenmenge, die sich an einer Stelle des Platzes versammelte und gemeinsam mit Wolfgang ging er dorthin, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit der Leute so fesselte. Als sie näher kamen, hörte er verschiedene Tierstimmen, die scheinbar zu singen versuchten. Er drückte sich durch die Menge und als er schließlich ganz vorn angekommen war, sah er einen Esel, auf dessen Rücken ein Hund, eine Katze und schließlich ein Hahn standen. Alle vier sangen ein Lied. Es waren die Bremer Stadtmusikanten. Martin erkannte nun, dass die Menschen um sie herum gequälte Gesichter machten. Einer der Leute sprach Martin an.
„Die sind furchtbar! Wir haben schon alles versucht, um sie zum schweigen zu bringen. Wir haben sogar Geld hingeworfen, damit sie aufhören, aber das hat sie nur noch mehr angestachelt.“ Martin konnte verstehen, wieso die Leute wollten, dass die Tiere aufhörten. Es war kein schöner Gesang, wie Martin es sich immer vorgestellt hatte, sondern der Esel schrie sein I-A und der Hund bellte dazu. Die Katze miauzte und fauchte und der Hahn krähte aus vollem Hals sein Kikeriki. Auch Wolfgang schien es zu stören, denn er hielt sich mit gequältem Gesichtsausdruck die Ohren zu.
„Das ist ja furchtbar! Wieso hast du mich hierher gebracht?“
„Moment! Du wolltest hier her.“ Martin fand es unfair, dass Wolfgang ihn beschuldigte sie hierher gebracht zu haben.
„AAARGH! Ich halt das nicht mehr aus!“ Martin war geschockt, als sich Wolfgang ohne Vorwarnung auf den Esel stürzte und seine Reißzähne in dessen Hals schlug. Der Esel brach zusammen und die Pyramide, die die Musikanten bildeten stürzte ein. Wolfgang packte den bellenden Hund am Hals und brach ihm das Genick. Der Hahn wollte davon rennen, doch Wolfgang hatte ihm schnell den Kopf abgebissen. Nur die Katze kam davon. Martin sah die Szene mit Grauen an, doch viel mehr verstörte ihn, dass die Menschenmenge um ihn herum jubelte und grölte. Angewidert drehte sich Martin von der Szenerie weg und stand auf einmal wieder vor drei Türen. Er entschied sich durch die Schlüssellöcher zu schauen, doch hinter jeder Tür sah er nur eine einsame Hütte in einem Wald. Er wusste nicht, ob hinter jeder Tür das gleiche Märchen war, oder ob es verschiedene Märchen mit einer ähnlichen Szenerie waren. Martin entschied sich für die mittlere Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Wieder verschwanden die anderen Türen und Martin ging allein weiter.
Auf der anderen Seite der Tür stand Martin nun vor der Hütte im Wald, die er zuvor durch das Schlüsselloch gesehen hatte. Er bemerkte eine Frau in der Nähe der Hütte, die nun auf ihn zukam.
„Hey du da! Ich brauche deine Hilfe!“ Die Frau war schätzungsweise fünfzig Jahre alt und Martin fand, dass sie ziemlich hübsch aussah. „Meine Stieftochter ist in diesem Haus und wird von sieben Männern gefangen gehalten.“ Martin erkannte, dass es sich um die böse Königin aus Schneewittchen handeln musste.
„Festgehalten? Ich dachte sie versteckt sich bei den Zwergen vor Euch.“ Martin war sich nicht sicher, was er von der bösen Königin halten sollte.
„War ja klar, dass die Brüder meine Geschichte falsch erzählen. Sie haben ja schließlich nur mit den Zwergen gesprochen. Komm, hilf mir kurz mit dieser Tür!“ Die Königin deutete auf die Eingangstür der Hütte. Martin versuchte sie zu öffnen, doch sie schien verschlossen zu sein. Er schaute zur Königin, die ihn mit einer auffordernden Geste drängte etwas zu unternehmen. Er hatte ein komisches Gefühl dabei, doch er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und unerwartet leicht sprang sie aus den Angeln. Mit einem lauten Knall fiel die Tür zu Boden und ein junges Mädchen starrte mit erschrockenem Blick zu Martin. Das Mädchen hatte Haut, so weiß wie Schnee, Lippen, so rot wie Blut und Haare, so schwarz, wie Ebenholz.
„Hildegard! Ich bin es...deine Mutter.“ Die Königin kam in die Hütte gestürmt und das Mädchen starrte auch sie mit Angsterfüllten Augen an.
„Moment! Hildegard? Ich dachte, sie heißt Schneewittchen?“ Martin war verwirrt.
„Schneewittchen? Was soll das denn bitte für ein Name sein? Haben die Zwerge dir diesen Namen gegeben mein Kind?“ Das Mädchen nickte nur stumm mit dem Kopf. „Komm mit Kind! Ich bringe dich nach Hause.“ Die Königin wollte die Hand des Mädchens nehmen, doch sie zog sie fort.
„Ich glaube nicht, dass Schnee...ich meine Hildegard mit euch mitkommen will. Vielleicht will sie hierbleiben?“
„Ach ich bitte dich! Schon mal was vom Stockholm-Syndrom gehört?“ Die Königin packte nun das Mädchen und zog sie aus der Hütte. Das Mädchen versuchte sich zu wehren, doch sie war zu schwach, um sich aus dem Griff der Königin zu befreien. Martin wusste nicht, was er tun sollte und lief nur verwirrt neben ihnen her. Als sie die Hütte verließen stieg die Königin zusammen mit dem Mädchen in eine Kutsche, von der Martin sicher war, dass sie zuvor noch nicht dort gestanden hatte. In diesem Moment riss Martin den Kopf herum, als er eine Stimme hinter sich schreien hörte.
„HEY! Was denkt ihr, was ihr da macht?“ Es waren die Zwerge, die scheinbar gerade von ihrer Arbeit nach Hause kamen, denn alle Sieben hatten eine Spitzhacke über die eine und einen Sack über die andere Schulter geworfen.
„Da sind die Entführer! Schnell weg hier!“ Die Königin gab ihrem Kutscher den Befehl loszufahren und die Zwerge begannen zu rennen. Martin bekam es mit der Angst zu tun, denn diese Zwerge sahen tatsächlich nicht sehr freundlich aus. Er rannte weiter in den Wald hinein und hörte, wie die Zwerge ihn verfolgten. Er kam schließlich auf eine Lichtung, auf der ihm erneut drei Türen begegneten. Er rannte auf eine der Türen zu und wollte sie bereits aufsperren, als er sich daran erinnerte, dass er zuvor durch das Schlüsselloch blicken musste. Er wusste nicht, wieso, oder was passieren würde, wenn er es nicht tat, doch er nahm sich die Zeit einen schnellen Blick zu wagen. Er sah einen hohen Turm auf einem Hügel stehen. Er dachte nicht weiter darüber nach, denn die Zwerge hatten ihn fast erreicht. Er steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch, drehte ihn um und öffnete die Tür. Er sprang hindurch und warf die Tür hinter sich zu.
Auf der anderen Seite stand er auf einer weiten Wiese, die an einen See angrenzte. Auf einem kleinen Hügel, welcher in den See hineinragte, stand der Turm, den er gesehen hatte. Martin hatte eine Ahnung, in welchem Märchen er sich nun befand. Er lief los, um den Turm zu erreichen. Der Weg war nicht sehr weit und gerade, als er den Turm erreicht hatte, öffnete er eine Tür, am Fuße des Turm. Vor ihm befand sich eine Treppe, die sich als Wendeltreppe zur Spitze des Turmes entpuppte. Martin fragte sich, wieso Rapunzel ihr Haar herunterlassen musste, wenn es doch eine Treppe gab, doch mittlerweile wunderte ihn gar nichts mehr in dieser Märchenwelt. Gerade, als er überlegte, ob er die Treppe hoch laufen oder einfach verschwinden sollte, hörte er hinter sich ein Fauchen. Martin drehte sich um und schaute auf die Spitze eines Degens, der auf seine Brust gerichtet war. Der Degen wurde von einem Kater gehalten, der einen Hut trug, an dem eine Feder befestigt war und Stiefel, die Martin verrieten, um wen es sich handelte.
„Du hast meine Freunde umgebracht!“ Martin verstand nicht, was der gestiefelte Kater meinte. Er hatte nichts dergleichen getan. „Wegen dir ist dieser Wolf in unserem Märchen aufgetaucht. Du bist Schuld, dass meine Freunde tot sind.“ Jetzt erkannte Martin den Kater. Es war der gleiche Kater, der im Märchen der Bremer Stadtmusikanten der Wut von Wolfgang entgangen war. Martin wich zurück, denn der gestiefelte Kater schien nicht mit sich reden zu lassen. Es war klar, dass der Kater ihn bestrafen wollte, also drehte sich Martin um und rannte die Treppen hinauf. Es war der einzige Weg, den er zur Wahl hatte, doch es kam ihm logischer vor den Turm hoch zu rennen, als sich bereitwillig aufspießen zu lassen. Er brauchte sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass ihn der gestiefelte Kater verfolgte, denn er hörte den gesamten Weg die Treppe hinauf, wie der Kater ihm eine Beleidigung nach der nächsten hinterher rief. Martin hatte das Ende der Treppe erreicht und erneut stand er vor einer großen Tür. Er versuchte sie zu öffnen, doch nichts passierte. Der Kater war noch nicht bei ihm, also versuchte er mit aller Kraft die Tür aufzubrechen, in der Hoffnung, es würde so leicht funktionieren, wie bei der Hütte der Zwerge. Diesmal gab die Tür jedoch nicht so leicht nach. Der Kater war fast bei ihm angekommen und Martin nahm all seine Kraft zusammen, um in einem letzten Versuch die Tür zu öffnen. Gerade in dem Moment, in dem er mit seiner Schulter die Tür auframmen wollte, öffnete sie sich und Martin traf das Mädchen dahinter. Rapunzel war auf den Aufprall nicht vorbereitet und stürzte rückwärts. Martin konnte nichts weiter tun, als zu beobachten, wie Rapunzel über ihre eigenen Haare stolperte und mit dem Kopf gegen einen Tisch knallte. Martin wurde kalt, als er ein lautes Knacken hörte und Rapunzel daraufhin mit leerem Blick regungslos liegen blieb. Martin ging zu ihr und fühlte nach ihrem Puls, doch konnte er keinen finden. Der gestiefelte Kater tauchte im Türrahmen auf und sah Martin neben der toten Rapunzel liegen. Ihre Blicke trafen sich und beide waren für einen kurzen Moment regungslos und geschockt.
„Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“ Eine Stimme vom Fuße des Turmes riss beide aus ihrer Schockstarre. Martin überlegte nicht lang und nahm Rapunzels lange Haare und warf sie aus dem Fenster. Er kletterte hindurch und glitt an Rapunzels Haaren hinab zu dem Prinzen, der ihn verwirrt ansah, als auf einmal ein fremder Mann vor ihm stand. In diesem Moment tauchten Rotkäppchen, die drei kleinen Schweinchen und die sieben Geißlein auf.
„Da ist er! Er hat Wolfgang entführt!“ Rotkäppchen zeigte mit dem Finger auf Martin, der einen Weg suchte, um zu entkommen. Plötzlich kam eine Stimme aus dem Turm über ihnen.
„Haltet ihn! Er hat Rapunzel umgebracht.“ Der Prinz zog sein Schwert und wollte Martin erschlagen, doch der konnte in letzter Sekunde ausweichen und rannte davon, denn er hatte erneut drei Türen entdeckt. Er wurde von allen Anwesenden verfolgt und zu seinem Leidwesen kamen auch noch die Zwerge dazu. Er rannte auf eine der Türen zu, schaute schnell durchs Schlüsselloch, ohne wirklich darauf zu achten, was er sah und öffnete die Tür.
Auf der anderen Seite stand er mitten auf einem großen Feld. Vor ihm stand ein Junge, der staunend eine riesige Bohnenranke anstarrte, die bis in den Himmel ragte.
„Da ist er! Haltet ihn auf!“ Der gestiefelte Kater und alle anderen, die ihn verfolgten waren ebenfalls hier. Martin rannte auf die Bohnenranke zu, stieß den Jungen aus dem Weg und begann zu klettern. Seine Verfolger begannen ebenfalls die Bohnenranke zu erklettern. Martin kletterte und kletterte, bis er die Wolken durchbrach und letztendlich trat er auf eine der Wolken und sah vor sich das Wolkenschloss. Er war fasziniert von dem Anblick, doch als die ersten seiner Verfolger ebenfalls hinter ihm auftauchten, rannte er ohne zu zögern los. Er trat durch das Schlosstor und sah den Riesen. Der Riese sah ihn ebenfalls und begann seine Keule zu schwingen. Martin konnte im letzten Moment ausweichen, bevor die Keule ihn traf, doch eines der sieben Geißlein wurde von der Waffe des Riesen zerquetscht. Martin schaute sich panisch um und sah eine Tür, die anders aussah, als die bisherigen. Sie hatte die gleichen Schnitzereien, wie die bisherigen, doch im Gegensatz zu den anderen leuchteten die Schnitzereien, genauso, wie die auf der Tür in seinem Wohnzimmer. Er war sich sicher, wenn er diese Tür erreichte, dann würde er sicher nach Hause zurückkehren können. Der Prinz hatte ihn erreicht und wollte gerade sein Schwert auf ihn niederfahren lassen, als der Riese erneut mit seiner Keule schwang. Martin konnte sich flach auf den Boden drücken, doch der Prinz wurde von der Keule getroffen und flog in hohem Bogen davon. Martin sprang auf und rannte auf die Tür zu. Um sie zu erreichen, musste er an dem Riesen vorbei. Er rannte auf die Beine des Riesen zu und wollte dazwischen hindurch schlüpfen. Der gestiefelte Kater stellte sich ihm in den Weg, doch der Riese packte ihn und warf ihn wie ein Stück Dreck gegen ein Stück Mauer, wo der Kater abprallte und tot liegen blieb. Martin rannte weiter und schaffte es unter dem verblüfften Riesen hindurch zu schlüpfen. Er rannte die Treppen zu der Tür hinauf. Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche, bereit ihn zu benutzen.
„NEIN! Schau durchs Schlüsselloch!“ Sämtliche seiner restlichen Verfolger brüllte ihm hinterher, doch es war zu spät. Martin hatte den Schlüssel bereits gedreht und die Tür geöffnet. Er sprang hindurch und alles um ihn herum wurde schwarz.
Martin schreckte hoch und nach ein paar Sekunden realisierte er, wo er war. Er saß auf dem Sofa, dass er in sein Wohnzimmer getragen hatte. War er etwa eingeschlafen und hatte all das nur geträumt? Es hatte sich so real angefühlt. Er schaute zu der Tür in der Wand, doch dort war keine Tür mehr. Stattdessen hatte sich die Schnitzerei in die Wand gebrannt, doch sie sah anders aus, als zuvor. Alle Figuren, die darauf dargestellt waren, schauten direkt zu Martin und sahen aus, ob sie Schmerzen leiden würden. Ein großer Riss zog sich durch das Bild, doch war die Wand unversehrt. Martin stand auf und ging zu der Stelle. Als er das Bild berührte, hörte er Schreie und Hilferufe. Er zuckte zurück und schaute mit erschrockenem Blick auf die schmerzverzerrten Gesichter von Rotkäppchen, den sieben Zwergen und all den anderen Märchenfiguren. Er wusste nicht, was er mit diesem Haus in Zukunft tun würde, doch er wusste, dass er jetzt in die nächste Bar gehen und sich besaufen würde.
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